Das große Vielleicht

 

Francois Rabelais letzte Worte, bevor er starb, waren: „Nun mache ich mich auf die Suche nach dem großen Vielleicht“. Ich bin mir nicht sicher, ob man das große Vielleicht nur finden kann, sobald man von dieser Welt abtritt, aber ich will es jetzt entdecken, und zwar noch in diesem Leben. Ich weiß nicht was dieses Große Vielleicht ist, aber eines weiß ich ganz sicher: Wir werden es nur herausfinden können, wenn wir einen Schritt nach Draußen wagen, um letztlich immer wieder dort zurückzukehren, wo wir herkommen – unsere Heimat.

 

Zusammen denken wir ganz absurd an den Ort unserer Geburt, wo alles begann.

Und wir denken an den Ort, an dem wir laue Sommernächte verbrachten,

und uns im Auto mit offenen Fenstern auf altbekannte Straßen losmachten

und zu oft gehörten Witzen lachten und liegend im Feld unser Leben überdachten.

 

Zusammen lachen und weinen, während man Freunde über grüne Wiesen führt,

und jeder das Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit in all seinen Facetten spürt.

Zusammen Kartenspiele zocken, oder ganz allein in seinem Zimmer hocken,

und keine Ahnung was man einmal werden will, denken wir uns ganz still.

Zusammen draußen liegen und in den mit Sternen bedeckten Nachthimmel schauen,

und jeden Winter eine Schneebar bauen.

 

Wenn wir wieder durch die Straßen laufen und uns Hausmannskost in die Nase weht,

Wenn wir wieder auf dem Fußballplatz stehen und die Zeit so schnell vergeht,

Wenn uns der Wind durch die Haare fegt und der Bauer wieder seine Felder säht,

Wenn wir gemeinsam am Lagerfeuer Bier trinken und unsere Nachbarn zu uns winken,

dann spüren wir was wir vermisst haben.

 

An dem Ort, an dem die Zeit vergeht, das nenne ich Heimat. Die wichtigen Erfahrungen, die man als Kind in seiner Heimat erlebt hat, hängen wie Kugeln an der Perlenkette der Zeit. Es muss erst Zeit vergehen, bis wir schließlich merken, wie stark die Zeitqualität zu jenen Zeitpunkten war. Daher muss jeder sie einmal verlassen, die Heimat. Und wenn die Sonne über dem Horizont schwebt und Maiglöckchen aus der Erde sprießen, dann brechen wir auf, packen unsere Sachen, machen uns aus dem Staub uns lassen alles Vertraute zurück. Wir fühlen uns einsam und gleichzeitig erregt. Adrenalin schießt uns durch unsere Adern und weite Augen blicken über unbekannte Landschaften. Die Abenteuerlust, die Neugier nach Herausforderungen, die Sehnsucht nach Neuartigem und die Suche nach dem Sinn – sie führen uns auf neue Wege und lassen die Silhouette der Heimat hinter den Bergen verschwinden. Die Entdeckung des großen Vielleich hat begonnen.

 

Wir können echten Aufbruch nur erleben, wenn es Heimat gibt. Wir können nur echtes Heimweh spüren, wenn es Heimat gibt. Wir können nur zurückkommen, wenn wir gegangen sind, und wir können nur etwas riskieren, wenn wir etwas haben. Wir können unsere Heimat und all die damit verbundenen Gefühle nur wertschätzen, wenn wir uns auf die Reise machen. Aufbruch bedeutet, dass wir unseren innersten Kern aufbrechen, um neue Eindrücke hineinzulassen. Wenn wir die Angst spüren, sie auf all ihren Ebenen zulassen und es dann trotzdem machen – dann wächst etwas in uns. Nur wer seine harte Schale fallen lässt und sensibel genug ist für die Magie der Welt, der kann über sich hinauswachsen.

 

Warum sind wir als menschliche Wesen alle heimatbezogen? Was gibt uns die Kraft in Norwegen in einer hölzernen Hütte zu sitzen und an den Ort zu denken, von dem wir herkommen? Warum denken wir in den Momenten tiefster Verzweiflung an unsere Familie und an altbekannte Orte aus unserer Heimat? Weil es uns ein Moment der Sicherheit verspricht, während sich die Heimat von ihrer besten Seit zeigt. Wir wagen den Schritt nach draußen nur, weil unsere Heimat ein Ankerpunkt für uns darstellt. Seitdem schlendern wir über die Welt, verbunden mit einer unsichtbaren Kette, die bis zu dem Ort zurückreicht, von dem wir gekommen sind. Dort haben wir unseren Anker gesetzt, als wir uns schweren Herzens von Vertrautheit zum ersten Mal trennen mussten. Eine Heimat zu haben bedeutet einen Bezugspunkt in sich zu tragen. Wenn wir neue Menschen kennen lernen, erzählen wir von unserem Leben davor, dem Ort, an dem wir die Reise des Lebens begonnen haben. Das Gesetz, nach dem wir angetreten sind, heißt Aufgabe. Nur wer zu gewissen Punkten Vertrautes zurücklässt, Menschen aufgibt und Orte verlässt, kann Stillstand vermeiden und die Suche nach dem großen Vielleicht fortsetzen. Andernfalls ruhen wir uns aus und vergessen die Aufgabe des sehnsüchtigen Suchens nach unserem persönlichen Lebensweg.

 

Es ist schon seltsam mit der Heimat, sie erinnert uns an die Dinge, die ewig gleich geblieben sind. Doch genau das macht sie zu einer sicherheitsgebenden Konstanten. Der Kirschbaum auf der hinteren Wiese am Feld ist noch immer da und die Hermanns sind noch immer ein Paar. Der Fußballclub ist noch immer so schlecht und das stimmt, die Lehrer an der Schule sind immer noch bedingt im Recht. Unser alter Nachbar hat zurecht noch immer kein Sorgerecht und meine Tante besteht immer noch bei Obi auf ihr Rückgaberecht. Straßennamen ändern sich nicht und Jugendliche auf der Kerb sind immer hacke dicht.

 

Wenn wir erste Erfolge feiern können und unserem persönlichen Lebensweg folgen, erinnern wir uns urplötzlich an einen Ort, den wir mit wertvollen Erlebnissen verbinden. Instinktiv folgen wir unserem Gefühl und landen Zuhause. Als wir durch altbekannte Straßen fahren und unsterbliche Kirschbäume betrachten, merken wir, dass sich nichts verändert hat. Wir verbringen Tage oder Wochen mit unserer Familie oder was davon noch übriggeblieben ist. Nach jedem Besuch können wir weniger Menschen besuchen, andere haben den Weg in die freie Welt bereits auch schon entdeckt. Gelassen steigen wir in unser Auto ein, wir drehen die Musik auf und legen den ersten Gang ein. Wir versuchen Gedanken zu fassen und unsere Gefühle zu sortieren, während Häuser und Wiesen an uns vorüberziehen. Ein Windstoß flößt uns einen Gedanken ein, der uns gar nicht gefällt: Hier ist alles gleichgeblieben, während wir nicht mehr derselbe sind, der wir einmal waren. Die Person, die gegangen ist, ist schon lange nicht mehr die Person, die jetzt hier im Auto sitzt. Und jedes Mal müssen wir nach Hause zurückkehren, um diesen Gedanken zu fassen. Während Heimat ein ewig gleichbleibender Ort für uns ist, haben wir uns bereits wieder verändert. Wir sind dem Ganzen entwachsen und fühlen uns diesem Ort dennoch so nahe und verbunden. Nach zu lange Zeit Zuhause, fängt das Kribbeln in den Fingerspitzen wieder an: Wir müssen weg, denn unser persönlicher Lebensweg möchte fortgeführt werden – die Suche nach dem großen Vielleicht.

 

Wenn wir dem Pfad unseres Lebens bis zum Ende gefolgt sind, dann werden wir genau auf den Wiesen stehen, auf denen wir als Kind spielten. Der Schatz, nach dem wir suchen, ist oft genau dort vergraben, wo wir unsere Reise begonnen haben.

 

Der Kreis muss sich schließen.

 

Von meiner jetzigen Warte aus betrachtet, kenne ich mein Großes Vielleicht noch nicht. Ich bin mir meiner Heimat bewusst, aus ihr komme ich und sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der heute nach dem Großen Vielleicht sucht. Ich weiß nicht was dieses Große Vielleicht ist, aber eines weiß ich ganz sicher: Wir werden es nur herausfinden können, wenn wir einen Schritt nach Draußen wagen, um letztlich immer wieder dort zurückzukehren, wo wir herkommen – unsere Heimat.

 

 

 

 

 

 

 

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