Dunkle Wolken ziehen auf



Es ziehen dunkle Wolken auf. Der Himmel färbt sich schwarz, während der Wind mir immer gewaltiger durch meine Haare pfeift. Mehrere Raben sitzen auf den Bäumen. Ein Unwetter zieht auf, denke ich mir sofort. Nein. Schwarze Wolken existieren seit langem in meinem Herzen. Das ist nichts im Vergleich zu dem, was in meinem Inneren schauert. Trotzdem würden die meisten Menschen bei solch einem Anblick Angst bekommen. Sogar die Älteren von ihnen, die ja tagtäglich behaupten, es sei alles in Ordnung, ich solle mich nicht fürchten und irgendwann würden bessere Tage kommen. Darauf pfeife ich! Ich kann mich kaum halten, so stark drückt mich der Wind nach Vorne, sodass ich schlagartig das Gleichgewicht verliere und drohe, auf den harten Boden zu fallen. Ein mir bekanntes Geräusch dröhnt in meinem Kopf. Eine Vielzahl schwarzer Flugobjekte schwirrt über meinem Kopf. Trotz der dunklen Wolken am Himmel, findet unheimliches Licht seinen Weg zu mir nach unten. Der Krach der von oben herkommt, wird allmählich lauter. Überall sehe ich schwarze Kreaturen, deren Flugbahnen kaum vorhersehbar, leichte Kreise ziehen. Schon eigenartig, denke ich mir.

Damals vor knapp einem Jahr, hatten wir kurzzeitig auch einen Raben. Zu dieser Zeit, bin ich gerade in die vierte Klasse gekommen. Aus irgendeinem Grund akzeptierten mich meine Mitschüler dort. Jedenfalls hatten wir einen Raben gefunden. Ich war damals total beeindruckt gewesen, dass seine Flügel größer waren als meine kleine Hand. Zuerst wollten ihn die anderen Kinder verjagen, doch der Rabe wollte einfach nicht wegfliegen. Also entschloss ich mich hinzugehen und nach dem Geschöpf zu schauen. Tatsächlich war sein rechter Flügel verletzt gewesen. Das konnte man seinen Bewegungen entnehmen. Ich nahm das arme Tier auf den Arm, während die anderen Kinder sich ekelten und davon rannten. Zuhause gab es wie immer Schwierigkeiten. Außerdem war unsere Wohnung im vierten Stock viel zu klein, um einen Vogel unterzubringen. Ich hatte trotz unserer finanziellen Lage so ein Gefühl. Ich wusste gleich, dass es meine Aufgabe war, den Raben wieder Gesund zu machen.

Heute bin ich es, vor dem sich die Kinder ekeln. Mehr und mehr Kohlraben ergänzen den düsteren Himmel. Allmählich fällt es schwer hindurch zu blicken. Das unheimliche Licht erreicht mich mittlerweile ganz schwer, weswegen ich ein paar Schritte nach Vorne laufe, um diffuse Strahlen zu erhaschen. Er scheint, als ob mich die Vögel verfolgen würden. Immer wieder steigt einer von Ihnen nach unten, um mich zu attackieren. Ich ducke mich und überlege, ob fliehen sinnvoll wäre? Gebannt schaue ich also nach Oben, um alles weitere vorhersehen zu können. Ein kräftiger Windstoß schafft es schließlich,  mich mit all seiner Kraft auf den harten Boden zu drücken. Seine geballte Faust hält mich mit seiner ganzen Kraft unten am Boden gefangen. Kurz verharre ich in der schrägen Position, in der meine linke Backe kalten Steinboden küsst. Jetzt haben sie mich! Genau auf diesen Moment haben sie die ganze Zeit gewartet. Schreiende Raben umkreisen meinen eisigen Körper, der noch immer wie versteinert, auf dem Boden des Pausenhofs liegt. In unregelmäßigen Abständen greift eine Krähe nach der anderen mich an, um mir unwillkürlich mit seinem spitzen Schnabel in den Rücken zu hacken, während ich noch immer bewegungslos auf dem Boden liege. Schon wieder attackiert mich einer von ihnen. Der Schmerz brennt unaufhörlich, dennoch wird keine Träne vergossen. Es ist doch alles gut, sagt Papa. Bilde dir doch nicht so einen Blödsinn ein, sagt Mama. Ich hab damals Schlimmeres erlebt, sagt Oma. Jetzt kullert mir doch eine Träne die Wange hinunter. Plötzlich höre ich einen Menschenschrei. Ich drehe meinen Kopf um hundertachtzig Grad nach links, sodass meine rechte Backe nun zu frieren beginnt.
„Was machst du denn da! Komm sofort rein. Es ist gefährlich draußen. Wir haben doch alle mal Angst. Stell dich nicht so an!“ Kurz nach dem Gesagten verschwindet sie wieder ins Schulhausgebäude. Merkt sie denn nicht, dass ich hier festgehalten werde, während ständig Krähen auf mir rumhacken? Mein Rücken ist bestimmt schon eine einzige Narbe, die tief zu meiner Seele reicht.

Warum lässt mich Anna hier einfach liegen? Damals waren wir beste Freunde gewesen, Anna und ich. Sie war schon immer die Hübschere von uns beiden gewesen. Dennoch trennte uns kein Stück Papier von einander. Ich weiß noch, als wir nach der Schule immer zu ihr spielen gegangen sind, da es bei mir Zuhause ungünstig war. Später am Nachmittag rannten wir dann Hand in Hand zum nahe gelegenen Spielplatz, auf dem sich eine von diesen Holzschaukeln befand. Wir füllten diesen Spielplatz mit Leben. Nach dem Schulwechsel, war es der Wind, der die Schaukel von nun an bewegte. Wir Kinder blieben bis heute hin aus. Nun war ich in einer Lage gefangen, aus der ich nur schwer wieder rauskomme. Die Zeit veränderte mein Leben, denn irgendwann lud sie mich auf ein buntes Karussell ein, dass sich bis heute hin weiterdreht. Keine Chance abzusteigen. Das Ritornell ertönt weiter hin.

Anna war damals auch mit mir in der vierten Klasse gewesen. Sie war die Einzige, die mir half den verletzten Raben zu pflegen. Auch wenn er schließlich starb, so war es der Versuch ein Lebewesen zu retten, der unsere Freundschaft für immer besiegeln würde.
Heute ist sie der Grund, warum mir jegliche Freundschaft ausbleibt. Wir haben dann gemeinsam auf die weiterführende Schule gewechselt. Nur Sie und Ich. Mehr Menschen existierten förmlich nicht in unserer Galaxie, bis...

Wann geht es endlich vorüber, denke ich mir. Meine rechte Backe bekommt plötzlich einen Regentropfen ab. Die kreischenden Kreaturen lassen von mir ab und fliegen ganz weit nach oben, bis der Himmel eine einzig schwarze Decke aus Vögel abbildet. Die Vögel lassen einen blutigen Kinderrücken zurück, auf dem tiefe Wunden wohnen. Die offenen Stellen von Gestern hatten sich schon zu dickes Gerinnt verfestigt. Doch sind es genau diese Wunden, welche die Raben mit voller Absicht wieder aufhackten. Endlich machen sich die Raben auf den Weg, um andere arme Mädchen wie mich zu terrorisieren. Sie werden nie von uns ablassen, denn unsere Angst macht sie stark. Doch unsere Stärke macht ihnen Angst. Ich erhebe mich vom tiefsten Punkt weit und Breit, bis ich schließlich mit beiden Beinen auf dem Boden stehe. Mir fällt auf, dass meine kaputten Schuhe gar nicht wasserdicht sind.  Standhaft blicke ich mich um. Ich erblicke auf dem Schulhof eine Wand, auf der lauter Kritzeleien abgebildet sind. Sofort werde ich wieder in vergangene Zeiten zurückgeholt.

Martin und Marc und die anderen Jungs spielten immer dieses Spiel in der Pause. Jeder hatte immer unglaublich viel Spaß dabei, den Fußball gegen die Wand zu spielen. Der Nächste sollte nach Aufprall des Balles selbiges tun. Wer den Ball nicht mittels einer Ballberührung wieder an die Wand schoss, der verlor. Ich glaubte, dass ich ziemlich gut in diesem Spiel gewesen wäre. Dennoch bekam ich nie die Chance mich zu beweisen.

Nun stehe ich im prasselnden Regen. Der weiße Ball liegt dicht an der Wand. Ich kehre ihm den Rücken zu und gehe wieder in Richtung Schultür. Ob Anna und die anderen Kinder mich vielleicht irgendwann mal in Ruhe lassen? Ich weiß es nicht. Das Karussell dreht sich weiter und mit ihm die Befürchtung, nie die Erfahrung machen zu dürfen, ein Teil von etwas zu sein. Für immer klein zu sein, weil einem niemand hilft.


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