Ich sehe dich, siehst du mich?




Während ich lese, habe ich dieses seltsame Gefühl, mich würde jemand anschauen. Ich hebe meinen Kopf und sehe ein Mädchen, welches kurz darauf ihren Blick von mir abwendet. Wer ist das, denke ich mir? Ich versuche weiter zu lesen, während mich unablässig die Neugier verfolgt. Ich blicke erneut nach oben und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. 
Sie sitzt in der hintersten Reihe mit ihren ewig weißen Kopfhörern. Es reizt mich zu ihr zu gehen und sie nach ihrem Namen zu fragen, doch ich kann nicht. Ich kenne sie doch gar nicht, warum also sollte ich sie ansprechen? Warum sollte sie mir überhaupt zuhören? 

Ich lese weiter - wer ist das verdammt. Ich sitze im Vierer vorne und habe sie in meinem Blickwinkel, sobald ich nach oben schaue. Ich traue mich aber nicht. 

Was wenn sie mich in dem Moment auch anschaut und ein peinlicher Moment entsteht. Ich schlage die nächste Seite um und dann noch eine. Irgendwann merke ich, dass der Inhalt dieser zwei Seiten komplett an mir vorbei gegangen sind. Ich gebe dem Drang nach, den Kopf zu heben und realisiere, dass sie in diesem Moment an mir vorbeiläuft. Der Duft, der meine Sinne erreicht, lässt mein Herz höherschlagen. Schnurstracks weht sie an mir vorbei, wie ein lauer Sommerwind und steigt in schnellem Tempo aus dem Bus aus. Was bleibt, ist der Gedanke, dass ich sie wiedersehen möchte.

Am nächsten Tag sehe ich sie wieder in der letzten Reihe sitzen. Ich steige ganz nachdenklich in den Bus und überlege mir, ob sie mich wohl gerade anschaut. Der Bus fährt so abrupt los, dass ich ins Schwanken gerate. Glücklicherweise kann ich mich an einer der Lehnen festhalten und falle gekonnt auf den vordersten Sitz eines Vierers. Oje - was sie jetzt wohl denkt? Ich schaue nach Oben und die sonderbare Gestalt mit ihren weißen Kopfhörern lacht in ihre Hand. Lacht sie mich aus? Ich selbst kann mir das Lachen nicht verkneifen, sodass wir schließlich gemeinsam lachen. Als würden wir gegenübersitzen und gemeinsam lachen - über uns und über meine eigene Unbeholfenheit. Vielleicht
will sie das gar nicht. Vielleicht schaut sie mich ja gar nicht an, sondern nur aus dem Fenster. Vielleicht bin ich ihr gar nicht aufgefallen. Ich entscheide mich also, mir ebenfalls meine weißen Kopfhörer in meine Ohren zu stecken und dabei aus dem Fenster zu schauen. 

Jetzt bin ich offiziell genauso abgekapselt, wie jeder andere Jugendliche auch.

Mehrere Menschen steigen in den ohnehin schon überfüllten Bus ein. Jetzt, wo mir die Sicht auf das sonderbare Mädchen genommen wird, reizt es mich noch mehr, sie anzusehen. Jetzt wo ich es nicht mehr haben kann, brauche ich es ganz dringend. Der Bus bleibt erneut stehen, Spannung lädt sich auf. Menschen steigen aus, andere steigen ein. Dazwischen blicke ich zur hintersten Reihe. 

Am nächsten Tag sitzt sie nicht wie erwartet im Bus. Ob sie wohl krank ist, oder so? Auf dem Rückweg sitzt sie im vordersten Vierer. Ich steige ein und entscheide mich, den Platz in der hintersten Reihe zu wählen. Schließlich möchte ich der Sache langsam auf den Grund gehen. Wieder und wieder schauen wir uns an. Es ist mir mittlerweile schon fast unangenehm, dass sie so offensichtlich zu mir herüberschaut.
 Plötzlich bleibt der Bus stehen. Sie steht auf, zieht sich ihre Jacke an, während sie gelassen ihre Tasche über ihre Schulter wirft. Ich stehe auf und ziehe mir meinen Rucksack an. Langsam schreite ich zur Tür hinüber. Sie tut selbiges und ich realisiere, dass wir uns noch nie so nahe waren. 

Dennoch trennt uns diese kleine Distanz innerhalb dieses Busses, die so großzu sein scheint. Ich nehme mir vor mutig zu sein und zu ihr hinzugehen. Aber wie peinlich wäre das, sie vor all den Leuten hier im Bus anzusprechen? Vielleicht will sie das gar nicht. Vielleicht schaut sie mich ja gar nicht an, sondern nur aus dem Fenster. Vielleicht bin ich ihr gar nicht aufgefallen. Ich entscheide mich also, mir ebenfalls meine weißen Kopfhörer in meine Ohren zu stecken und dabei aus dem Fenster zu schauen. Meine Gedanken schweifen ab, während wir kurz am Bahnhof halten Es fallen Schlagschatten auf mein Gesicht. 

Wer mich jetzt sieht, fragt sich bestimmt, weshalb ich so verdutzt zur hintersten Reihe schaue, obwohl dort niemand sitzt. Der einzige Gedanke: Wo ist sie und werde ich sie wiedersehen? Alle möglichen Kausalitäten schwirren in meinem Kopf herum, weswegen ich sogar meine Haltestelle verpasse. Ich steige also die Nächste aus und bin zufrieden mit der Situation, nun einen weiteren Weg nach Hause zu haben. Schließlich muss ich mir Geschichten ausdenken. Was dieses Mädchen wohl für ein Leben führt? Was sie wohl gerade tuen wird? Schließlich freue ich mich auf morgen, denn dann kann ich vielleicht mehr Details sammeln, um meiner Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

Die Spannung ist kurz davor zu reißen, es fehlt nicht mehr viel. Während wir gemeinsam aus der Doppeltüre gehen, schaut sie mich an und sagt dieses eine Wort: Hallo. Die Geschichte endet hier. Der magische Moment endet hier. Alles endet. Zuvor wollte ich wissen, wie sie heißt und was sie tut, nun will ich einfach nur noch nach Hause.

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