Der kleine Vogel









>> Schon seit Tagen sitze ich auf dieser eisigkalten Stange in diesem eisigkalten Käfig und alles schwankt <<, seufzt der kleine Vogel und senkt seinen gefederten Kopf. Um ihn herum ertönt das Gezwitscher der anderen Vögel. Auch sie flattern unruhig in ihren Käfigen herum. Der kleine Vogel macht seine Vogelaugen auf und schaut geradewegs auf den Käfig von zwei Kanarienvögel. Kalte Stangen, hinter denen sie sitzen, trennen ihre Welt von der des kleinen Vogels. Die Kanarienvögel starren ihn an, da auch sie resigniert auf ihrer Stange sitzen, da es keinen Ausweg für sie gibt. Der kleine Vogel schließt seine Augen und lauscht dem nervösen Flügelschlag, der durch die Kammer hallt. Die Vögel in den restlichen Käfigen suchen noch immer unentwegt nach einem kleinen Loch. Das Schiff schwankt. Alles ist in Aufruhr – bis auf den kleinen Vogel, der noch immer dort auf seiner Stange sitzt. 

Diffuse Lichtfäden spannen sich durch die runden Fenster, an denen Wassertropfen hängen. Plötzlich geht eine Tür auf und die Kammer erhellt sich für einen kurzen Augenblick. Ein Mann stolpert die Treppe hinunter und visiert zwischen all den Käfigen, den des kleinen Vogels an. Zwischen seinen Händen hält er mich, während ich kläglich versuche, mich aus den Fängen des Menschen zu befreien. Er schließt hektisch das Tor auf und drückt mich in den Käfig hinein. Und während er das Tor heftig zustößt und die Treppe hinaufschnellt, fällt langsam eine rote Feder auf den mit Sand ausgelegten Boden. 

>> Wer bist denn du? <<, fragt mich der kleine Vogel, während er immer noch reglos auf seiner Stange sitzt. Ich erhebe mich und schüttle den Dreck von meinen Federn ab. 

>> Die Frage ist doch, wer bist du? Ich bin nur der Vogel, der es liebt, eingesperrt zu werden <<, antworte ich. Ich merke, dass sich der kleine Vogel schon länger nicht von der Stelle gerührt hat. Er wirkt auf mich wie eine der vielen Stangen, die mich umgeben.

>> Niemand möchte eingesperrt sein <<, erwidert der kleine Vogel nach einer etwas zu langen Pause. >> Ich bin der, den das Schicksal hasst. Ich bin der, den man armen Vogel nennt. Ich bin schließlich der, dessen Federn schwer vom Ballast dieser Welt und mit den Krallen wund sich an der Stange hält. Ich bin nur der Kleine <<, flüstert er zu mir, ohne mich anzuschauen >> was ist mit Dir? <<

Verwirrt schaue ich ihn an. Ein trauriger kleiner Kerl scheint er zu sein. Ich gebe mir einen Ruck, zwei Flügelschläge und schon sitze ich neben ihm auf der Stange. 
>> Was ist mit dir mein kleiner Vogel, dass Du so starr im Käfig Dich ergeben hast? <<, frage ich direkt - Ich hoffe nur, er macht den Schnabel auf.

>> Ich hab mich nicht ergeben. Ich kann mich einfach nicht bewegen. Du wirst schon sehen wie es ist. Noch schwingst Du große Reden. Doch die Flügel schwingen kannst Du nicht. Bald hast auch du in deinen Krallen Gicht <<, sagt er, während er sich trotzig aufplustert. 

>> Betrachte doch einmal meine Flügel. Weshalb hat sie mir der liebe Gott geschenkt? Und jetzt sieh uns an, an welchem gottverdammten Ort wir uns befinden. Grausame Einsamkeit, durch Stahlgitter voneinander abgetrennt und allesamt missverstandene Wesen hier in dieser Kammer <<, erwidert der kleine Vogel.

>> JA ich sehe ein, dass wir Vögel sind, weil es unsere Bestimmung ist zu fliegen. Aber was tust du, um diese Bestimmung zu erfüllen. Du bleibst in diesem engen Käfig sitzen und gibst dich mit vollendeten Tatsachen zufrieden? Du bist der dumme Vogel, der sich lieber alle Federn selbst herausreißt, als sich die Mühe zu machen, nach einem Ausweg zu suchen <<, sage ich und fliege kurzum auf den Boden des Käfigs zurück.

>> DU behauptest, ich würde mich nicht anstrengen, hieraus zu kommen? Schon so lange verweile ich in diesem Gefängnis, ohne zu wissen, wann ich schon wieder verschleppt werde <<, zwitschert der kleine Vogel. Kurz darauf, möchte er mir beweisen, dass er alle möglichen Auswege bereits analysiert hat. Er breitet seine Flügel aus und versucht loszufliegen. Doch anstatt sich in die Lüfte zu begeben, bleibt er mit seinen Krallen an der Stange haften und egal, wie sehr er sich anstrengt von ihr wegzukommen, ihm gelingt es nicht. Er scheint eins mit der kühlen Stange zu sein.

>> Siehst du, du sitzt schon so lange hier und malst dir diese schlechte Welt aus und beginnst es schließlich selbst zu glauben. Deine Gedanken werden zu deiner Realität. Wärst du ein schlauer Vogel wüsstest du, dass dich dein Pessimismus daran hindert, von neu anzufangen. In deinen Augen bist du der Gebrandmarkte, der so viel Schlechtes erlebt hat und nun in seinem eigenen Mitleid ertrinkt. Du bleibst in der Gestalt eines Vogels verharren, obwohl du viel mehr sein könntest. Ich kann mir das nicht länger ansehen <<, sage ich bestimmend und fliege zum Vorsprung des Tores. 

>> DU weißt nicht, was ich gesehen habe. Außerdem ist es besser ein Vogel zu sein. Wir sind nunmal Vögel, was willst du daran verändern? <<, fragt er mich.

>> Nur weil du dich in der Gestalt eines Vogels siehst, bist du noch lange keiner. Nur weil alle anderen Vögel hier in dieser Kammer in ihrem Käfig bleiben, musst du das noch lange nicht. Du nimmst einfach an, dass du als Vogel geboren wurdest, ohne für einen kurzen Augenblick daran zu zweifeln <<, sage ich.

>> Na klar sind wir Vögel – was denn sonst? Warum sollte ich mich mit mir selbst beschäftigen, wenn ich mich doch auf das Leid dieser Welt konzentrieren muss? Ich kann meinen Zustand nicht ändern, weil ich diesen nach meiner Geburt angenommen habe <<, antwortet er.

>> Na gut, dann wirst du in diesem Zustand hier und jetzt sterben <<, sage ich ihm eiskalt zu. Auf dem Vorsprung des Tores, schlüpfe ich aus der Hülle des Vogels heraus. Mit einer schnellen Bewegung knacke ich das Schloss und verschaffe mir somit den Weg in die Freiheit. Wer sagt denn, dass Vögel keine Schlösser knacken können?

>> Wow, ich bin beeindruckt. Da habe ich in die Freiheit geguckt <<, zwitschert der kleine Vogel.

>> Kommst du mit? <<, frage ich ihn. Ich sehe, dass er zwar versucht von der Stange loszukommen, ihm es aber nicht gelingt. Der kleine Vogel versagt, wegen seiner eigenen Gedanken. Ich schüttle den Kopf und fliege alleine aus dem Käfig hinaus. 

Ich habe es geschafft, denn ich bin mehr, als nur das. Ich möchte mehr sein, als ein Spatzenhirn und Dinge machen, die niemand für möglich hält. Kaum gelingt es mir, aus dem Vogelgefängnis zu entkommen, merke ich, wie mich die anderen Vögel anschauen und dabei verstummen. Doch plötzlich merke ich, dass ihr Blick nicht auf meine rote Federbracht, sondern auf die aufgestoßene Tür fällt. Kaum realisiere ich was gerade passiert, ranken sich zwei starke Hände um mein Gefieder. Meine Kehle schnürt sich zu und auf einen Schlag lässt der Druck nach. Ich falle gnadenlos vom Himmel, während der kleine Vogel immer noch auf seiner Stange sitzt. 

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