Liebe Angst

Wer hat Angst vor dem Sterben, oder niemals sein Ziel zu erreichen, unglücklich zu werden, seine Liebsten zu enttäuschen oder alleine zu bleiben? Es gibt so viel mehr, vor dem wir Menschen Angst haben. Aber ist diese Angst auch berechtigt? Verdient es diese Angst, unser Leben einzuschränken? Die folgenden Zeilen sind Ausdruck eines Briefes, den ich an meine personifizierte Angst geschrieben habe.

 


 

Liebe Angst,

 

Ich scheiß auf dich. Ich genieße dich. Ich bin glücklich dich zu haben. Ich verachte dich. Wovor habe ich Angst? Es ist schwer das aufzuschreiben. Man muss schließlich aufpassen, dass man Angst nicht mit Panik verwechselt. Das eine rettet dir das Leben, das andere kostet es dich. Angst zu haben, heißt sie zu spüren, anstatt ihr die Kontrolle zu überlassen. Sei dein eigener Herr. Tu aber gleichzeitig auch nicht so, als ob du keine Angst hättest. Sei dir vielmehr deiner Ängste bewusst. Warum ich das alles schreibe? Um die Zeilen zu füllen, bevor ich meine Angst konkretisiere. Ich will nicht wissen, wovor ich Angst habe.

 

Ich habe Angst davor, meinen Vater und meine Mutter zu verlieren. Ich habe Angst, mich zu verlieren. In einen tiefen Abgrund zu fallen und dort nicht mehr heraus zu kommen. Ich habe Angst davor, meine Haare zu verlieren, einen lieben Menschen zu verlieren, jemand anderen zu gefährden, selbst überfallen zu werden, blind zu werden und meine Sicht zu verlieren. Ich habe große Angst davor, nicht mein volles Potenzial auszuschöpfen und niemals an meine Grenzen zu kommen, etwas unentdeckt zu lassen, nicht einen Schritt weiter gegangen zu sein. Ich habe Angst davor, nicht die richtige Frau in meinem Leben zu finden und wenn ich sie finde, sie nicht wirklich glücklich machen zu können. Ich habe Angst zu altern und niemals meine Bucketlist zu schaffen. Angst davor, Keine Kinder zu bekommen und das Schlimmste, selbst in einer Beziehung für immer unglücklich zu werden. 

 

Ich habe Angst, mitten im Meer zu schwimmen. Und während mich das seichte Wasser umgibt und die Sonne langsam untergeht, werde ich allmählich meine Kräfte verlieren und ab und an Wasser schlucken. Ich habe weniger Angst zu sterben als Angst vor dieser Ungewissheit, was wohl unter mir schwimmt. Ich habe Angst, alleine zu sein. Dort auf dem weiten Meer. 

Da ist einfach niemand.

 

Ich werde immer nach dem Sinn des Lebens suchen, nach der Essenz und nach der einen Sache, die die Welt im Inneren zusammenhält. Ich habe Angst davor, was ich finden werde, wenn ich diesen Punkt in meinem Leben erreiche. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Leben enden muss, sobald ich diesen Sinn jemals erfahren sollte. Es ist geschafft. Endlich habe ich diesen einen Gedanken, der all das neu aufrollt, was seit meiner Geburt geschehen ist. Vielleicht ist der Sinn im Leben ja das Sterben selbst - wer weiß.

 

Und wenn ich ehrlich bin, dann fühle ich mich ernsthaft hintergangen. Denn sie sagen dir: Du hast Glück, denn du bist noch in der Grundschule. Erst wenn du aufs Gymnasium gehst, wird es wirklich anstrengend für dich werden. Später sagen sie: Du hast Glück, denn du bist noch auf dem Gymnasium. Erst wenn du in die Oberstufe gehst, wird es wirklich schwierig für dich werden. Danach sagen Sie: Du hast Glück, denn du bist erst noch in der Oberstufe. Später im Studium wird es wirklich hart für dich werden. Schließlich wird es auch im Job hart werden und immer so weiter. 

 

Doch das ist alles eine riesengroße Lüge. Ich hatte immer Angst davor, den nächsten Schritt zu wagen, weil ich das Bestmögliche aus der Etappe Schule herausholen wollte. Weil ich davon ausging, es würde noch schwieriger werden und dass ich bis zu diesem Punkt noch lange nicht das „richtige“ Leben kennengelernt hatte. Schließlich kommen ja noch das Studium und die Arbeit, und so weiter. Ich sollte gerade so viel vermeidliches Glück haben und doch bin ich unglücklich. Die Angst hat mich letzten Endes nur daran gehindert, mich auf die nächste Etappe einzulassen. Ich hatte immer das Gefühl, von ihr aufgefressen zu werden - von dieser Angst, nicht zu wissen, was danach kommt. Sie sagen dir, dass du heutzutage Glück hast, denn dir stehen so viele Türen offen. Denn damals hatten die Menschen nicht so viele Möglichkeiten, 

wie wir jetzt. Aber diese unglaublich große Anzahl an Möglichkeiten, macht mir ja gerade Angst. 

DU entscheidest dich für eine Sache und gleichzeitig gegen hundert andere Alternativen. Das ist angsteinflößend. 

 

Und nein, ich habe nicht nur Angst vor Spinnen, oder vor der Höhe. Ich habe keine Angst zu fliegen, oder mich für andere zu verbiegen. Ich habe Angst zu versagen und möchte mich nicht beklagen. Immerhin habe ich als weißer Mann Chancen, die ich nicht nutze. Deswegen möchte ich nicht nutzlos sein. Die Aufgaben in meinem Leben, die mir scheinbar ein Dritter auferlegt hat, scheinen mich zu erdrücken. Wenn ich ehrlich bin, finde ich das Ganze hier lächerlich. Immerhin brauche ich nicht wirklich Angst zu haben. Vor was denn auch? Immerhin sitze ich nicht in einem Schlauchboot auf dem Weg nach Griechenland. Immerhin muss ich nicht zuschauen, wie die Hälfte der Menschen neben mir ertrinkt, bis ich dann nach Tagen ankomme und mich dann keiner haben will. Immerhin sitze ich dann nicht mit Tausend Anderen in einem Zelt, und wie es für mich weiter gehen wird, ist so ungewiss wie einen Kometen zu sehen. Diese Art von Existenzangst habe ich nicht, denn ich weiß genau, wie es für mich weiter gehen soll. Trotzdem möchte ich sagen, dass alle Ängste berechtigt sind. Schließlich sind sie da und sie zu verleugnen, wäre genauso schlimm.

 

All diese Ängste und ja ich könnte weiter machen. Ich könnte die Zeilen füllen, bis Word mir sagt, es gäbe keinen Speicherplatz mehr. Stattdessen gibt es keine Angst mehr. Die Angst sich einzugestehen tut gut und deshalb mach es gut, liebe Angst. Du zeigst mir Grenzen auf, die ich gerne überquere, um dir dann zu sagen, dass du unrecht hattest. Schließlich sind wir alle so voller Furcht, so angsterfüllt und vergessen sie zu leben. Die Angst nervt mich ja selbst und dennoch hilft sie mir, mich zu beweisen und den subjektiven Rahmen des Möglichen auszudehnen. 

 

Liebe Angst, ich kann dir sagen, du kannst mich mal. DU hast mich mal gehabt. Aber ich sage dir jetzt was, ich lasse dich los. DU warst einmal und bist jetzt tot.

 

 

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